Anfang des Jahres hatte ich eine Erleuchtung. Ich lauschte gerade den finalen Worten meines Professors in der letzten Vorlesung meines Studiums mit der schnittigen Bezeichnung „Online Medien“. Dabei hatte ich mich nicht ganz in die romantische Abschiedsstimmung meiner Kommilitonen einfinden können, sondern habe mich stattdessen gefragt, was ich denn da eigentlich studiert habe. Eine Frage, die ich mir nur deshalb gestellt habe, weil ich sie während der vergangenen drei Jahre unzählige Male skeptischen Freunden, Familienmitgliedern und Barbekanntschaften beantworten musste, ohne diese im Nachhinein genauso für das Thema begeistert zu haben, wie ich es bin. „Achso, also irgendwas mit Medien“, war die typische Reaktion nach meines zumeist 10-minütigen und mit brennendem Eifer abgehaltenen Pitchs und der dazu gehörigen wissenschaftlichen Einordnung des Begriffs „Online Medien“. Zumindest im Hinblick auf zukünftige Gehaltsverhandlungen sollte ich wohl noch etwas eingehender über das Thema reflektieren. Ich ging die Frage anders an: WAS bin ich denn nun? Was ist man, wenn man „Online-Medien“ studiert und als Bachelor of Arts abgeschlossen hat? Webdesigner? Softwareentwickler? Projektmanager? Online Marketer? Oder doch Statistiker? In der Tat zeigten sich mir derart viele verschiedene Möglichkeiten auf, so breit gefächert und interdisziplinär aufgebaut war mein Studium: Nahezu alle Aspekte, von der Planung, Entwicklung und Steuerung, bis zur Vermarktung digitaler Produkte und Dienstleistungen sind im Laufe der drei Jahre, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis behandelt worden. Ein sicherlich wohl durchdachter und gut gemeinter Aufbau eines Studiums, der mich in diesem Moment allerdings an den Rand einer mittelschweren Identitätskrise brachte. Zumindest, bis ich mich an meine Reise in das Silicon Valley erinnerte; an meinen Ausflug in das Zentrum des US-amerikanischen, voll-digitalen Ökosystems aus Venture-Capital Gesellschaften und Hochtechnologie- Startups, in dem ein Begriff im Mittelpunkt jeder angehenden Diskussionsrunde stand: Growth Hacking: Ein Prozess, um Unternehmen respektive einem Produkt, strukturiert zu messbaren und skalierbaren Wachstumshebeln entlang der dazugehörigen Customer-Journey zu verhelfen. Anders gesagt: Der neuste, Buzzword-lastige Hype im Online-Marketing, der in erster Linie jungen Unternehmen zu Milliarden-Bewertungen verhelfen soll, wie es Facebook, Twitter, Airbnb oder Paypal vorgemacht haben. Zum Erreichen solcher ambitionierten Ziele, die in der Regel nur mit sehr begrenzten Budgets umgesetzt werden können, ist nicht nur ein ganz eigener Methodenkatalog erforderlich, der mit Techniken aus der Old-Economy und dem klassischen Marketing nicht mehr abgedeckt werden kann – es bringt auch eine ganz neue Berufsbezeichnung mit sich: Den Growth Hacker: Ein breit aufgestellter Kreativer, der mit Fähigkeiten und Kenntnissen aus Online-Marketing, Software-Entwicklung und Datenanalyse ausgestattet sein muss, um im Idealfall wöchentlich neue Wachstumsmöglichkeiten für sein Unternehmen zu identifizieren und mit geeigneten Strategien und Maßnahmen anzugehen.

Dazu entwickelt der Growth Hacker eigens auf ein spezifisches Produkt zugeschnittene Growth Hacks, innerhalb der Growth Hacking Customer Journey. Diese folgt dem Schema AARRR: Acquisition, also die Generierung von Aufmerksamkeit auf das Produkt, Activation, also das strukturierte Herbeiführen einer ersten, positiven Erfahrung mit dem Produkt, Retention, also Durchführen von Maßnahmen zur Kundenbindung, Refferal, das Schaffen von Anreizen zur Weiterempfehlung des Produktes und Revenue, also Maßnahmen zur Monetisierung.  Die Ergebnisse seines Handelns versorgen den Growth Hacker mit Daten, die von ihm auszuwerten sind, um wiederum neue Wachstums-Potenziale auszumachen. Er unterscheidet sich dabei grundlegend von einem klassischen Marketer, der heutzutage in erster Linie nur innerhalb der Marketing- respektive Werbeabteilung eines Unternehmens agiert und dementsprechend für das Absetzten von vorgegebenen Produkten zuständig ist. Der Growth Hacker besinnt sich stattdessen auf die eigentlichen Grundsätze des Marketings, wonach der Kundenwunsch im Mittelpunkt steht und Produkte dahingehend entwickelt werden, dass ein Product/Market Fit nachweisbar vorhanden ist, was durch den Growth Hacker und sein Team abteilungsübergreifend und in interdisziplinärer Arbeit geschieht. Andererseits ist die Arbeit des Marketers in der Regel auf das Maximieren des Absatzes ausgelegt, während der Growth Hacker seinen Fokus auf Wachstum, als das Maximieren des Kundenstammen legt.   Das Mindset des Growth Hackers ist es dabei, durch kreativen Einsatz begrenzter Ressourcen maximales Wachstum zum erzeugen. Ein Credo, dass mir, als gebürtigen Schwaben, sofort einleuchtete und mir half die ganze Materie sofort zu verinnerlichen.  Und mit diesen Erinnerungen kam die Erleuchtung: Das Online Medien Studium hat mich mit den vielen Fachbereichen und Schwerpunkten rund um die digitale Wirtschaft unbewusst zum Growth Hacker ausgebildet. Mit dem frisch errungenen Geistesblitz wand ich mich an unseren Studiengangsleiter Herrn Prof. Dr. Mester, der mir zu dieser nicht ganz so offensichtlichen Einsicht nur gratulieren konnte. Denn der Begriff „Growth Hacking“ kommt mit Bedacht nicht in der Bezeichnung oder Beschreibung unseres Studiengangs vor: Im angelsächsischen Sprachraum hat sich der Begriff respektive die Berufsbezeichnung zwar bereits durchgesetzt, aber gerade im akademischen Umfeld der deutschsprachigen Länder, findet sich noch keinerlei eindeutige Definition, geschweige denn eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Growth Hacking ist somit hierzulande noch nicht ganz gesellschaftsfähig. Gerade der Begriff „Hacker“ respektive „Hacks“ ist hier mit starken negativen, zumeist sogar kriminellen Assoziationen verbunden, während diese beispielsweise in den USA eher für kluge, kreative und innovative Lösungsansätze von Problemstellungen mit begrenzten Ressourcen verwendet werden.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich Konzepte wie „Growth Hacking“ hierzulande aber erst etablieren und durchsetzen können, wenn nicht nur Erfolgsgeschichten aus den USA in der Fachpresse zu finden sind, sondern auch europäische respektive deutsche Unternehmen erfolgreich Growth Hacking umgesetzt haben. Nichtsdestotrotz hat sich für mich persönlich die Frage nach meinem Studiums- und Berufsbild geklärt – wenn auch der Begriff des „Growth Hackings“ in meinem näheren Umfeld nicht weniger erklärungsbedürftiger sein dürfte, als „Online Medien“.

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